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Liebe XX,
Da ich ein evangelischer Pastor bin, kann ich die Motive, die zu einer sexuellen Enthaltsamkeit oder einem zölibatären Leben führen, nur mit meinem Verstand begreifen, nicht aber mit meinem Herzen. Ich verstehe einen freiwilligen enthaltsamen Lebenswandel so, dass es nicht darum geht, sich gänzlich jeglicher Lusterfahrung zu verschließen. Als Menschen sind wir sind niemals nur geistige sondern auch körperliche Wesen. Wir sind männlich und weiblich geschaffen, ebenso wie zu Gottes Ebenbild. Wer sich also entschließt, zölibatär zu leben, wird fortan die körperliche Vereinigung vermeiden und sich stattdessen der vollständigen spirituellen Vereinigung mit Jesus Christus öffnen.
Solch eine geistliche Vereinigung wird bisweilen als ausgesprochen lustvoll und geradezu ekstatisch empfunden. In diese Region scheint sich auch Ihre Erfahrung zu fallen. Die Weise, in der Sie von dem Mann berichten, mit dem Sie – wie Sie es beschreiben – "telepathisch" verbunden sind, lässt mich an das Erleben mittelalterlicher Mystikerinnen denken, die von ihrer geradezu körperlichen Erregung berichten, die ihnen die Versenkung in das Gebet zu Jesus Christus bereitete.
Allerdings liegt hier freilich ein großer Unterschied zu Ihrem Erlebnis, denn Sie haben ja an einen Menschen gedacht, den Sie einmal kennengelernt haben, nicht an Jesus Christus selbst. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie in diesem Mann "Jesus strahlen" sahen. Es gibt solche Momente des innigsten Verstehens durch einen einzigen Blick. Trotzdem bleibt er ein Mann, dem Sie begegnet sind, und nicht Jesus selbst, mit dem Sie sich, wenn Sie so wollen, spirituell vereint haben.
Noch einmal: ich verfüge nicht über Ihre Erfahrungen und kann mir nur aus meiner Perspektive heraus einen Reim auf das machen, was Ihnen widerfährt. Wie ich das Gelübde der Keuschheit verstehe, geht es nicht darum, die eigenen Gefühle ganz zu beherrschen, sondern den eigenen Körper. Aber vielleicht sieht man das in "Ihrem" Konvent anders. Ich empfehle Ihnen unbedingt, eine geeignete Person in dem Konvent, dem Sie eventuell beitreten möchten, zu fragen, ob sie nicht eine ähnliche Erfahrung hatte, in der sie sexuelle Lust, vielleicht gar Befriedigung empfand durch reine Kontemplation.
Ich grüße freundlich
Frank Muchlinsky